– ein Kommentar von Dr. Lara Maier & Clarissa Tuchel
Was lange währt, wird endlich gut?
“Keine Diagnose durch die Hose” lernen wir Mediziner bereits im Studium. Damit gemeint ist, dass jeder Diagnose eine Anamnese und körperliche Untersuchung vorangehen soll. Denn nur dann können Ärzt*innen ein umfassendes Urteil fällen. Auch persönlich glaube ich nicht, dass die digitale Interaktion grundsätzlich ein persönliches Arzt-Patienten-Gespräch ersetzen kann. Zwar können teleradiologische Verfahren, sowie Video- und Foto-Konsultationen, den Alltag erleichtern, doch die unter Medizinern bis heute weit verbreitete Zurückhaltung hatte, neben den regulatorischen und technischen Rahmenbedingungen, einen ebenso großen Einfluss.
Der Werdegang der Telemedizin war daher kein einfacher. Man könnte ihren Start in Deutschland auch als durchaus holprig beschreiben. Wer visionär an die Telemedizin, ihre disruptive Chance und ihren Mehrwert glaubte, brauchte einen langen Atem. So auch Katharina Jünger, Co-Founderin und CEO von TeleClinic. Schon 2015 gründete sie die TeleClinic mit dem Ziel, durch digitale Arztbesuche die Gesundheitsversorgung breitflächig, ja disruptiv zu verbessern. Doch es sollte sich herausstellen, dass sich ihr Engagement gelohnt hat.
Work in progress
Zuvor wagte sich Deutschland zaghaft an das Thema heran. 2003 wurde der Beschluss zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) gefasst. Als ihre Geburtsstunde galt der damalige “Lipobay-Skandal”, in deren Folge über 50 Menschen weltweit an gesundheitschädlichen Wechselwirkungen eines Cholesterin-Senkers mit anderen Medikamenten verstarben. Mit einer eGK und automatisiert erfassten, digitalen Informationsflüssen zwischen den behandelnden Ärzt*innen versprach man sich – zurecht – Transparenz und eine bessere Patientenversorgung. Mit Verweis auf den Ausbau der Telematik-Infrastruktur oder die Entwicklung des e-Rezeptes (siehe hierzu auch unseren Faktencheck “Wird Deutschland durch das E-Rezept zum Vorreiter?), kann man den Zustand auch 17 Jahre später noch als “work in progress” bezeichnen.
Die Zukunftsaufgabe
2010 widmete sich der Deutsche Ärztetag der Telelmedizin und verabschiedete einen “12-Punkte-Plan”. Dieser definierte, als “Voraussetzung für gute Telemedizin”, spezifische innerärztliche und externe Faktoren. Immerhin beschrieb die Bundesärztekammer die Telemedizin als “Zukunftsaufgabe der Ärzteschaft” und riet statt technischer Insellösungen zu einem einheitlichen Weg.
Dies mündete 2015, also nun vor 5 Jahren, in einem weiteren Positionspapier, welches die “Ärztliche Position zu Einsatzgebieten telemedizinischer Patientenversorgung” definierte. Wir erinnern uns, dieses Jahr war auch die Geburtsstunde der TeleClinic. Es hatte die Priorisierung der vielfältigen, komplexen Anwendungsmöglichkeiten der Telemedizin zum Ziel und stand ihr somit – teilweise zurecht – zwar wohlwollend, doch mit angezogener Handbremse gegenüber. Beispielsweise sollten telemedizinische Methoden rein additiv eingesetzt werden. Es war als Arzt also noch nicht möglich, einen telemedizinischen Fokus in seiner Praxis zu setzen. Mit wissenschaftlich fundierten Wirksamkeitsnachweisen könnte theoretisch jedoch einen „gleichwertiger Einsatz“ ermöglicht werden. Dabei seien “ökonomischen Interessen” aber stets gegen die “Versorgungsrealität” abzuwägen. Also keine ausschließliche Telemedizin und bürokratische Bedenken.
Neue Versorgungsrealität
Spätestens hier wurde es kompliziert mit und für die Bundesärztekammer. Sie selbst statuiert: “Die Abbildung im Regelvergütungssystem (…) ist problematisch, denn die neuartigen eHealth-Methoden stellen (teilweise) (…) völlig neue Versorgungsprozesse dar”.
Das große Potenzial der telemedizinischen Methoden wurde mit der Qualitätssteigerung durch Verbesserung der innerärztlichen Kommunikation, der Arzt-Patienten-Beziehung und der Vorbeugung von Versorgungslücken definiert. (Chapeau, dem können ich wir nur zustimmen.) In den folgenden Jahren wurden Fernbehandlungsverbote gelockert, der Health Innovation Hub des BMG gegründet (siehe auch unser Podcast mit Henrik Matthis, Managing Director des BMG) und diverse Gesetze verabschiedet, um die grundlegende Weiterentwicklung der Telematik-Infrastruktur gemeinsam zu ermöglichen (interessante Einblicke dazu finden sich in unserem Podcast mit Gottfried Ludewig, Chef der Abteilung für Digitalisierung des Gesundheitswesens im BMG und Sylvia Thun). Auch der elektronische Medikationsplan ist seit 2020 fester Bestandteil der eGK, die elektronische Patientenakte (ePA) soll 2021 eingeführt und das E-Rezept ab 2021 verpflichtend angeboten werden.
Und dann kam Corona
Die Corona-Krise gilt nicht nur in Deutschland als ein “Digital Health-Katalysator”. Nicht jede akute Erkrankung benötigt eine ausführliche Konsultation und das Warten im Wartezimmer birgt auch Gefahren. Auch zeitliche Aspekte gewinnen in einer Pandemie an Relevanz. Somit gilt:
Social distancing in healthcare = Telemedizin.
Nachdem im Rahmen des Digitalen Versorgungsgesetzes im März durch die KBV die (zeitlich begrenzte) Aufhebung der Begrenzungsregelung für Videosprechstunden beschlossen wurde, konnten Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen ihr telemedizinisches Angebot frei aus- beziehungsweise aufbauen.
Anbieter wie Selfapy TeleClinic und HelloBetter bekamen über Nacht den lang ersehnten Aufschwung. Gerne verweise ich hier auf unser Gespräch mit Nora Blum, Co-Founderin und CEO von Selfapy. Doch auch Plattformen wie Caspar Health und Physiopraxen konnten seitdem VideoCalls für ihre Patient*innen nutzen und boten oftmals Ihre Angebote vorübergehend kostenfrei an. Der Grundstein einer „vertrauensvollen eHealth-Basis“ wurde gelegt und dem medizinischen Personal wie auch den Patient*innen langsam die Berührungsängste genommen. Hierzu trugen auch eine Vielzahl von hochspezialisierten Pilot- und Forschungsprojekten in den letzten Jahren bei. Mit sogenannten „integrierten Versorgungskonzepten“ oder “Smart Care Ansätzen”, die Videosprechstunden mit der Erfassung von Werten wie der Blutglukose oder Vitalparametern (also Remote Monitoring) und einer ePA kombinieren, können auch chronisch Kranke kontinuierlich, evidenzbasiert und reliabel ärztlich geführt werden.
Was denken Patienten und Ärzte darüber?
Eine deutschlandweite Befragung über 2200 ambulant tätiger Ärzt*innen durch die Stiftung Gesundheit in Zusammenarbeit mit dem health innovation hub beschreibt ein verhaltenes Meinungsprofil bezüglich der digitalen Praxis. Doch boten 2017 gerade einmal 1,8% eine Videosprechstunde an, so waren es 2020 über 60%, die diesen Service bereits nutzen oder kurz vor der Implementierung standen. 94% davon hatten sich in diesem Jahr aufgrund der Corona-Krise mit der Thematik befasst.
Eine ausschließlich digitale Praxis käme für die meisten nicht in Frage. Die Hälfte aller Ärzt*innen schätzt den maximalen Nutzen bei einer Quote von 20% ein. Also: 80% analoges Wartezimmer, 20% digitale Sprechstunde. Ab einer Quote von > 40% wird die Luft sehr dünn, hauptsächlich begründet mit Skepsis gegenüber der (guten) Arzt-Patienten-Interaktion. Ein interessantes Detail: Weiterhin halten 24% den technischen und rechtlichen Aufwand für zu hoch, 21 % haben sich schlicht noch nicht mit der Thematik auseinandergesetzt.
Nutzerfreundlichkeit wird zentral
Dieses Meinungsbild ist hochaktuell angesichts des “Brandbriefes” der KBV an den Bundesminister Herr Jens Spahn und zeigt die bestehende Herausforderung, die Ärzteschaft mitzunehmen, klar auf.
Das hih verzeichnete über alle Ärzt*innen hinweg eine relativ niedrige Bereitschaft zur regelmäßigen Nutzung von Telemedizin, während Psychotherapeut*innen ihr sehr offen gegenüber stehen.
Es ist zu erwarten, dass in naher Zukunft weitere Fachrichtungen, die sich schon heute sehr intensiv mit digitalen Lösungen wie z.B. DiGAs auseinandersetzen – oder besonders stark von Telemedizin profitieren können – offen mit Telemedizin auseinander setzen, während ‚traditionellere‘ Fachrichtungen weiterhin skeptisch abwarten.
Dem gegenüber stehen die neuesten Erhebungen einer Bitcom-Studie aus Patientensicht vom Juli 2020. Diese beurteilen die Videosprechstunde durchweg positiv, von 1000 Personen hatten 16% den Service genutzt und 45% konnten es sich „gut vorstellen“. Patient*innen, die ein telemedizinisches Angebot genutzt hatten, äußerten sich stark befürwortend. Über 90% würden die Videosprechstunde weiterempfehlen, 56% fühlten sich beim digitalen Arzt/der digitalen Ärztin „gut aufgehoben“ und ausreichend ernst genommen. Die „App auf Rezept“ überzeugt in ihrem Nutzen dagegen bisher nur 34%.
Entscheidender Faktor wird sein, wie einfach die Services zu nutzen sind. Das Erleben der Patient*innen ist dabei zentral, er steht im Mittelpunkt (Der “zentrale Patient” wird auch im Gespräch von Herrn Professor Jochen Werner mit den Visionären diskutiert).
Was erwartet uns?
Nach zögerlichen Start kann man wohl konstatieren, dass Deutschland auf einem guten Weg ist. „Work in progress“ – wir bleiben dran! Es gibt viel aufzuholen, doch halten wir dem internationalen Vergleich stand.
Der Markt bewegt sich und die ehemaligen Visionäre werden nunmehr auch von starken Investoren unterstützt. Die schweizerische Zur Rose AG, deren CEO Walter Oberhänsli auch bereits zu Gast in unserem Podcast war, übernahm beispielsweise vor Kurzem den Pionier TeleClinic.
Das Unternehmen rechnet damit, dass die Akzeptanz von Fernbehandlungen und von digitalen medizinischen Dienstleistungen weiterhin zunehmen wird. Die Symbiose mit digitalen Rezepten und Krankheitsbescheinigungen soll die Marktposition der Zur Rose AG stärken. Aber auch neue Player drängen mit integrierten Versorgungskonzepten auf den Markt und der CEO von “SmartCare”, Bernhard Günther, sieht hier in der Zukunft spannende Kombinationsmöglichkeiten von Fernbehandlungen mit Remote Monitoring. So setzt sein Unternehmen SmartCare beispielsweise auf die Nutzung einer seit Jahren etablierten Telemedizinischen Plattformlösung aus den USA und kombiniert diese mit einer aus Israel exklusiv eingeführten und als Medizinprodukt zugelassenen SmartWatch names Bio-Beat.
Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass die Anwendungsgebiete für Telemedizin breiter und komplexer werden und somit auch näher am Alltag von Patient*innen und Ärzt*innen andocken können. Gleichzeitig sind viele Vorarbeiten von Pionieren wie der Teleclinic erbracht worden und nicht jeder muss das Rad alleine neu erfinden. Starke Partnerschaften werden daher aller Voraussicht nach die nächste Entwicklungsstufe der Telemedizin in Deutschland einläuten und prägen.
Telemedizin ist keine Vision mehr, sondern auf dem Weg dazu der neue Standard in der medizinischen Versorgung zu werden. Dies kann jedoch nur in einer Symbiose mit der direkten ärztlichen Betreuung von Patient*innen erfolgreich sein – also die digitale Unterstützung des persönlichen Arzt-Patienten Kontaktes.
Quellen
https://www.stiftung-gesundheit.de/pdf/studien/aerzte-im-zukunftsmarkt-gesundheit_2020.pdf
https://www.kbv.de/html/1150_46688.php
https://www.bitkom.org/sites/default/files/2020-07/prasentation_digitalhealth2020.pdf
https://hih-2025.de/here-to-stay-digital-health-in-times-of-covid-19-a-german-deep-dive/
www.gtai.com
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