Die App auf Rezept ist erst der Anfang

„Ambulante Versorgung heißt immer auch direkte Patientenkommunikation, hier können digitale Tools auf vielen Ebenen unterstützen“ sagt die Ärztin und Digitalforscherin PD Dr. med. Maike Henningsen in Folge 32 unseres Podcasts “Visionäre der Gesundheit”. Doch wie können es digitale Innovationen wirklich in den Alltag der Medizin schaffen? Ist die Disruption der ambulanten Versorgung möglich – und wenn ja wie schnell?

In diesem Faktencheck widmen wir uns den großen Veränderungen, die mit digitalen Gesundheitsanwendungen, der Digitalisierung des ambulanten Praxisalltags und der Frage einhergehen, wie die Akteure, allen voran die Ärzteschaft auf dieses Thema reagieren? 

Was erwarten Ärztinnen und Ärzte von der App auf Rezept?

In einer von uns im November 2020 durchgeführten Befragung wird klar, dass für die Ärzteschaft der Mehrwert einer App auf Rezept, oder Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA), für die Versorgung und Betreuung der Patient*innen im Vordergrund steht. Ärztinnen und Ärzte suchen einen Nutzen: sei es Effizienz, ein besseres therapeutisches Ergebnis, oder zusätzliche Einnahmequellen. Der Mehrwert von DiGAs wird in der Befragung mit 5/10 Punkten bewertet, was zeigt, wie wenig sich die Ärzteschaft im Moment festlegen will. Daraus folgern wir, dass der Nutzen von DiGAs im Allgemeinen momentan noch nicht wirklich klar verstanden wird, bzw kommuniziert wurde.

App auf Rezept - DiGAs

Die befragten Ärzte sehen das größte Potential bei den Themen Rehabilitation, der Überwachung chronischer sowie onkologischer Erkrankungen, der Psychologie und Psychotherapie. Dass auch mehrfach Fachgebiete  “ohne Patient*innenkontakt” (Labormedizin, Pathologie) genannt werden, was explizit nicht dem Sinn und damit der Zulassung einer DIGA dient, verdeutlicht den herrschenden Aufklärungsbedarf. 

Im Kontext der letzten Monate hat sich der Blick auf Digitalisierung bei den Akteuren im Gesundheitswesen allerdings radikal gewandelt. Im Zuge der Covid-19-Pandemie begannen viele niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, sich aus der Not heraus dem Thema zu widmen. Der „Digital-Booster“ der medizinischen Versorgung katalysierte viele Praxen ins digitale Zeitalter. Ein Drittel unserer Befragten gibt an, sich “bestens vorbereitet” zu fühlen für das Digitale Versorgung-Gesetz, ein Drittel fühlt sich „alleine gelassen“, und ein Drittel wäre gerne mehr im Gestaltungsprozess berücksichtigt worden. Diese Stimmungsbild deckt sich mit Umfragen der Bertelsmann Stiftung und des Hartmannbundes.

Zusammenfassend lässt sich das Ergebnis als “skeptisch-positiv” beschreiben, und es wird deutlich, dass die praktizierende Ärzteschaft künftig bei der Gestaltung mehr miteinbezogen werden sollte, nicht nur die Funktionäre der Verbände. 

Die Digitalisierung verändert Praxen und Kliniken signifikant 

Zeit- und Kostenersparnis– immer wieder begegnen uns diese Schlagworte. Ärzt*innen erwarten sie von DiGAs und einer digitalen Praxis ebenso wie die Bevölkerung. Tatsache ist jedoch, dass der KBV Bürokratie-Index aufzeigt, dass Praxen im Zuge der Umstellung der Digitalisierung mit einem deutlichen bürokratischen Mehraufwand zu rechnen haben. 

Dies liegt an der Umstellung der Systeme, dem damit verbundenen Kostenaufwand, noch ungeschulter Mitarbeiter*innen, die idealerweise vor Änderung des bestehenden Systems abgeholt und auch mental auf die bevorstehende Reise mitgenommen werden müssen. Jede Praxis muss sämtliche bestehende Prozesse überarbeiten und anpassen. Diese müssen zuvor logisch durchdacht und konsistent sein. Eine rechtskonforme digitale Implementierung kann eine Praxis bis zu 2,5% des Umsatzes pro Jahr kosten. Nur dann bringt die digitale Optimierung einen Vorteil und langfristige Kostenersparnis (statt einen teuren Fehler zu begehen). Damit bleibt letztlich erst einmal noch weniger Zeit für die eigentliche Behandlung der Patient*innen übrig. Daher müssen für viele Ärzt*innen weiterhin Anreize geschaffen werden, den Weg konsequent zu beschreiten. 

„Corona-sei-Dank“ spüren wir nun dennoch eine große Veränderung, vom „Digitalen Wartezimmer“ des #WirvsVirus Hackathons zu einer verstärkten Nutzung von Doctolib o.ä. für Terminbuchungen. Hier wurde die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Patienten und der Wirklichkeit der Ärzt*innen übrigens besonders deutlich: Für fast zwei Drittel aller Deutschen ist die digitale Terminbuchung das wichtigste digitale Angebot – sogar 41% der über 70 Jahre wünschen sich einen solchen Service.

Der Wandel des Arztbildes 

Unsere Vision einer digitalen Arztpraxis, eines digitalen Krankenhauses setzt den Patient und die Patientin in die „Mitte“ des Geschehens als selbstinformierte und mündige Person. Diese unterstützt die Diagnosefindung durch Datengenerierung und -bereitstellung. Ärztinnen und Ärzte arbeiten fortan weniger mit „hypothesengestützten Differentialdiagnosen“, sondern haben die Chance auf eine „faktengestützte Diagnose“ – basierend auf Daten und Informationen, die Patient*innen selbst fortlaufend erheben. Einen fundamentalen Beitrag werden Algorithmen leisten, die diese Daten interpretieren und dem medizinischen Fachpersonal die relevanten Informationen zur Verfügung stellen  – präventiv, partizipativ, prädiktiv. Zu den Daten, die Patient*innen selbst erheben, kommen Künstliche Intelligenz-basierte Systeme für medizinisches Fachpersonal hinzu:  ein Beispiel sind radiologische Befunde mit Hilfe von KI oder die Diagnose-App Ada Health, die eine eigene Lösung für medizinisches Personal, Ada-X, entwickelt hat. Symptom-komplexe oder besonders seltene Erkrankungen können so leichter erfasst und somit schneller diagnostiziert werden.

Die Self-Service Patient*innen

Patient*innen können mit Hilfe von immer preisgünstiger werdenden medizinischen Diagnose-Instrumenten ihre Vitaldaten messen und diese Ergebnisse live mit medizinischem Fachpersonal teilen. StartUps wie „MedKitDoc“ bieten bereits vollständige Lösungen dafür an. Das Startup beschäftigt sich mit der Synergie von ärztlicher Untersuchung und persönlicher Beratung bei zeitgleicher Verbesserung der diagnostischen Qualität – unabhängig von Ort und Zeit. 

Das „Kit“ stellt einen versandbereiten Koffer dar, in dem sich diverse diagnostische Handgeräte befinden. Diese sind allesamt durch den Patienten selbst bedienbar und mit einer App und Plattform verbunden. Dabei können Arzt & Patient z.B. live Herz- und Lungengeräusche abhören. 

Von einem digital affinen Hausarzt gegründet, unterstützt mit IT-Power und erprobt in der eigenen ländlichen Praxis zeigt sich ein Paradebeispiel des digitalen, neuen Ärztebildes. Auch ein/e “Telearzt”  kann ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis durch eine Smartphone-Kamera aufbauen. Telearzt heißt übrigens auch das Angebot der Vitagroup, das ein ähnliches Konzept nutzt, wobei Patient*innen sich nicht selbst untersuchen, sondern die Untersuchung von einer speziell geschulten nicht-ärztlichen Fachkraft durchgeführt wird.  Mit solchen Lösungen können zudem Arztbriefe, Rezepte oder Krankschreibungen einfach und digital zur Verfügung gestellt werden.

Hervorheben möchten wir auch das “Institut für PatientenErleben” unter der Leitung von Prof. Dr. Werner (Gast in Folge 15 des Podcasts) an der Uniklinik Essen. Das Institut befasst sich intensiv mit der subjektiv wahrgenommenen PatientJourney unter Miteinbeziehung der Verwandten. Ein positives “PatientenErleben” ist für sie essentiell mit einer qualitativ hochwertigen Medizin verbunden. 

Genau hier sehen wir die erweiterte Kompetenz des sich wandelnden Arztberufes: mit dem Wandel gehen, ihn mitgestalten und neue Wege finden, um auch eine digitale Versorgung bei steigendem Facharztmangel zu gewährleisten.

Mündige Patient*innen 

Wir wissen, dass durch Veränderung des Lebensstils viele Krankheiten vermieden oder sogar geheilt werden können – dieses Wissen ist auch Teil der Leitlinien der meisten chronischen Erkrankungen. Ärzt*innen können und sollen Patient*innen dazu anhalten, einen nicht gesundheitsförderlichen Lebensstil zu ändern. Dies geschieht oft nicht, oder nur unzureichend, weil im Praxisalltag dafür kaum Zeit ist. In den USA gibt es Lösungen, die seit Jahren im Markt sind und beweisen, dass Lebensstilintervention über digitale Coaches funktioniert – das beste Beispiel ist der Diabetes-Coach „Livongo“, der kürzlich vom Telemedizinanbieter Teladock gekauft wurde. Aus dem Ausland drängen Player wie “Liva Healthcare” oder “GoForward” auf den Markt der Lifestyle-Medicine. Sie verfolgen mittels personalisiertem-digitalem Gesundheitscoaching einen präventiven, partizipativen und prädiktiven (“4P”)-Ansatz. 

Der mündige Patient darf, kann und soll sich künftig selber um seine Gesundheit kümmern. Ärzt*innen und Patient*innen werden zu Co-Partnern in der Mitgestaltung ihres eigenen Wohles und ihrer gesundheitlichen Zukunft. Der ganzheitliche Aspekt wird zunehmend in den Fokus rücken und „Digital Health“ sei Dank könnte durch die zunehmende Eigenverantwortung der Patient*innen ein Paradigmenwechsel stattfinden.

Dieser Weg wird, aufgrund der oben genannten Hürden des Alltags, kein leichter sein. Und er wird andauern, das ist uns allen bewusst. Daher sehen wir es als essentiell an, dass die Politik, die Unternehmer und VC’s hinter den StartUps, die Verbände und Interessengemeinschaften dort draußen sich gemeinsam mit dem medizinischen Fachpersonal gegenseitig stützen, um die nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung gemeinsam mitzugestalten.

Quellen

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Eine Antwort zu „Die App auf Rezept ist erst der Anfang“

  1. Hallo, die App auf Rezept, nun ja – an sich eine gute Idee. Natürlich werden sich alle Beteiligten umstellen müssen. Das dies mehr Effizienz bringen kann ist ziemlich sicher, nur muss auch die Infrastruktur dazu passen und die Sicherheit gewährleistet sein. Ein anderer Aspekt ist aber in meinen Augen das größere Problem, was machen wir mit den älteren Menschen, die nicht in der Lage sind eine App zu bedienen oder sogar nicht einmal ein passendes Peripheriegerät besitzen? Werden diese benachteiligt oder gesondert betreut?
    Grüße
    Heiko


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