Am Ende des Medizinstudiums wissen angehende Ärzt*innen recht viel über Krankheiten, aber leider sehr wenig über das Gesundbleiben. Holistische, traditionelle medizinische Lehren wie die ayurvedische oder naturheilkundliche Lehren setzen jedoch genau hier an. Die Kombination dieser Ansätze mit moderner, digitaler Medizin erscheint vielen auf den ersten Blick ungewöhnlich, ist jedoch so wichtig und sinnvoll, dass wir dem Thema diesen Faktencheck widmen. Wir erinnern uns an Prof. Dr. Michalsens Zitat: „Die Dialektik der Technologie – die Technologie bringt uns am Ende wieder zurück zur Natur.“
Wir sind viele – aber wie viele?
Der Trend, lebensstilbedingte Erkrankungen durch eine Änderung des Lebensstils zu therapieren setzte sich in den letzten Jahren fort. „Lifestyle-Medicine“ ist eine Bewegung des angloamerikanischen Raumes, die auch schon Deutschland erreicht hat und sich genau diesem Thema widmet. Ärzt*innen und Krankenschwestern/Pfleger bilden sich hier darüber weiter, wie bspw. einen Diabetes-Patienten alternativ zu einem Medikament oder Insulin therapiert werden kann. Sie lernen, die Lebenssäulen der Ernährung, Bewegung, Schlaf- und Stressmanagement individuell mit dem Patienten zu besprechen, ihn zu coachen und so langfristig als „mündigen Patienten“ zu entlassen. Liva Healthcare, (…) wurden von uns in diesem Kontext bereits erwähnt.
Darüber hinaus wachsen in Deutschland die medizinschen Vertreter alternativer Heilmethoden stetig an. So vielfältig die Oberbegriffe für das Spektrum der »nicht-schulmedizinischen« Diagnose- und Therapieformen sind, so uneinheitlich ist auch eine Systematik zur eindeutigen Definition und Abgrenzung der verschiedenen Untergebiete und Methoden. Exemplarisch nennen wir die Naturheilkunde, die manuelle Medizin (mit der Chiropraktik), die Homöpathie und die Akupunktur. Sämtliche Bereiche durften in den letzten Jahren eine wachsende Zahl interessierter Anhänger begrüßen. Eine positiver Entwicklung ist auch, dass bestimmte Therapieformen, die vor nicht allzu langer Zeit in der Medizin noch als fragwürdig galten, heute zur Alltagspraxis der etablierten Medizin gehören. So ist die Chiropraktik heute unter dem Begriff der manuellen Medizin in der Orthopädie fest integriert.
Zunahme an Interesse
Im Jahr 1995 führten 5.680 Ärzte die Zusatzbezeichnung »Naturheilverfahren« (77 % niedergelassen, 23% in Kliniken), ab dem Jahr 2000 waren es bereits 10.746 – also doppelt so viele. Dennoch ist sie bisher kein fester Bestandteil der medizinischen Ausbildung. Wenige Hochschulen machen hier Ausnahmen, so z.B. die TU München. Auch die Bundesärztekammer behandelt das Thema noch stiefmütterlich – in unserer Recherche konnten wir keine Angaben in ihren Reports finden.
Erwähnenswert ist auch die Akupunktur: Die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur (DÄA) als größte Organisation der ärztlichen Akupunktur-Verbände in Deutschland hatte 1996 rund 7.200 Mitglieder, heute wenden nach ihren Schätzungen 30.000 bis 50.000 Ärzt*innen zumindest gelegentlich Akupunktur an.
Auch die gesetzlichen Krankenkassen (GKV) haben den Trend ihrer Versicherten zur Alternativen Medizin bemerkt und nutzen ihn langsam. Die Anbieterseite – also Ärzt*inne in Praxis und Klinik – wächst und bemüht sich die Patient*innen, die bei Heilpraktiker*innen um Rat suchen, zurück in die ärztliche Versorgung (und Abrechnung!) zu bekommen.
Ayurveda – individuelle, echte Health Care
Ayurveda, als die älteste Heilkunde der Menschheit, steht für das „Wissen vom Leben“ oder das „Wissen von den Gesetzmäßigkeiten des Lebens“. Sie widmet sich dem Geist-Körper System auf ganzheitliche Weise und sieht ihren primären Fokus in der Bewahrung und Optimierung der Gesundheit, in der Prävention und der holistischen, personalisierten Therapie von Krankheiten.
Die Inder verstanden schon vor 3500 Jahren, dass jeder menschliche Organismus anders funktioniert. Auf Grundlage dieses Verständnisses entwickelten sie präventive und therapeutische Strategien, synergistisch wirksam und individuell angepasst an die Konstitution und akute Konstellation der sogenannten Doshas, also der drei biologischen Programme, deren ausgewogene Funktionsweise die Gesundheit eines Menschen definiert.
Aus alt mach neu
Die Stichworte „personalisierte, individuelle Medizin“ gehören heute zum Standard-Repertoire der Digital-Health-Bewegung und so liegt es unseres Erachtens Nahe, auch hier die Brücke von „alt“ zu „neu“ zu schlagen. Wir können heute die digitalen oder laborchemischen Wirksamkeitsnachweise erbringen, um die Anwendungen einer breiten Maße zugänglich machen.
Ihre Wirksamkeit im Vergleich zur konventionellen Therapie bei Kniegelenksarthrose wurde 2018 in einer renommierten Studie der Charité Hochambulanz Naturheilkunde unter Leitung von Prof. Dr. Michalsen nachgewiesen. Im Vergleich zu einer herkömmlichen Therapie konnte die ganzheitliche Therapie aus Indien die Beschwerden länger und ausgeprägter senken. Im anglo-amerikanischen und europäischen Raum gibt es bisher kaum eine wissenschaftliche Verankerung der Lehre, weshalb sie als ein Meilenstein angesehen werden kann.
Doch die ayurvedische Lehre ist noch nicht für die Herausforderungen der Cyber-Gesellschaft gerüstet. Sie muss sich im globalen Kontext umstrukturieren, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. 50% der Deutschen sind derzeit daran interessiert, für die anderen 50% jedoch käme eine Therapie dieser Art „nicht in Frage”. Es werden noch einmal nur 50% der potenziell verfügbaren Patient*innen-Daten von ayurveda-Praktizierenden genutzt. Ihre Ausbildung bedarf dieser auch nicht unbedingt. Doch wenn daten-gestützte Therapien sich in anderen medizinischen Bereichen bereits positiv etablierten, dann doch sicherlich auch in dieser Lehre?
Tradition im Alltag
Um die indische Tradition in unserem Zeitalter und unseren Breitengraden zu etablieren, bedarf es jedoch auch einer Anpassung an unseren Alltag.
Erste überzeugende Versuche einer digitalen Umsetzung findet man in der App „Yoou“, mitentwickelt von Dr. Bauhofer. Als erster ayurvedisch ausgebildeter Arzt in Deutschland ist er ein Pionier auf seinem Gebiet und bemüht sich um deren zukunftsorientierte Weiterentwicklung. Die App ersetzt noch lange keinen Arzt, doch leitet sie die interessierten Nutzer kurzweilig und informativ durch Dosha-Tests, ermittelt aktuelle Energie-Level und bietet mehrwöchige, evidenzbasierte und alltagsrelevante Pläne für verschiedene Lebensbereiche an (derzeit noch als Beta-Version). „Repure“ bietet ebenfalls die ayurvedische Lehre per App an, jedoch stärker lifestyle-orientiert.
Grundvoraussetzung ist natürlich immer das intrinsische Interesse der Nutzer*innen.
Fastenkur und Blutegel per App?
Die Dialektik von Naturheilkunde und Technologie wird uns zwar in absehbarer Zeit keine digitale Blutegel-Therapie ermöglichen, doch liegt ihre Stärke im Erheben von Daten, Tracking, Selbst-Kontrolle und der qualitativ hochwertigen Information der Patient*innen.
Der „mündige Patient“ kommt auch hier zum Tragen. War es früher notwendig einen Termin bei einem naturheilkundlich orientierten Arzt oder einer Klinik zu vereinbaren, um sich zum Thema Fasten anleiten zu lassen, gibt es heute Apps wie unter anderem „Salufast“. Salufast wurde mitbegründet von Prof. Dr. Michalsen und unterstützt durch präzise Zeitangaben, individuell auf die körperliche Konstitution und Chronobiologie abgestimmt, informiert mit Hintergrundartikeln und leitet so zur Selbsthilfe beim (Heil)fasten an. Da der Effekt des Fastens erst nach circa 13 Stunden ohne Nahrung eintritt und jeder Mensch einen etwas anderen Rhythmus besitzt, kann dies eine hilfreiche Stütze sein.
Doch Fasten – was bedeutet das eigentlich?
Beim Heil- oder Intervallfasten, beginnt im Körper ein durch Nahrungsentzug induzierter Prozess, der „Autophagie“ genannt wird. Das bedeutet, die Zellen fangen an sich selbst zu verdauen – allerdings eher im Sinne eines Reinigungsprozesses, der „Zellmüll“ ähnlich wie auf einem Recyclinghof sortiert, gezielt verdaut, abtransportiert oder wiederverwendet. Dies entspricht einem tollen Selbstreinigungsprozess der Zelle und damit unseres ganzen Organismus und ist eine kluge Überlebensstrategie unseres Körpers. Der Zellbiologe Herr Yoshinori Osumi erhielt 2016 den Nobelpreis für Physiologie & Medizin für seine Entdeckung. Neben dem Fasten fördern übrigens auch Sport, eine Schwangerschaft oder Spermidin-Einnahme (ja, es heißt wirklich so) den Prozess der Autophagie. Diesen „digitalen Coach statt einem Klinikaufenthalt“ in der Kliniktasche zu haben, empfinden wir als sehr praktisch.[LDM1]
Das besondere Momentum in dem wir uns derzeit befinden, liegt aber auch woanders. Das Tracken vielfältiger Daten, beispielsweise im Rahmen naturheilkundlicher oder ayurvedischer Studien, ermöglicht ihren wissenschaftlich fundierten Fortschritt. Die Untersuchung des Mikrobioms, also unserer vielfältigen Darmbakterien, kann heute zum Beispiel gematched werden mit der traditionellen Ernährungslehre der Heilverfahren. Dadurch werden diese in das heutige Zeitalter geholt. Durch die Generierung evidenzbasierter Wirksamkeitsnachweise kann Akzeptanz geschaffen und unsere schulmedizinische Versorgung langfristig möglicherweise verbessert werden.
Wir sind auf die Weiterentwicklung dieser Bewegung gespannt. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ermöglicht es uns in vielfältiger Weise, präventive und individuelle Ansätze zu etablieren. Dank ihr kann sich ein wahrhaftiges „Gesundheitssystem“ entwickeln. Die ayurvedischen und naturheilkundlichen Ansätze fügen sich hier sehr gut ein.Denn der Körper hat eine erstaunliche Fähigkeit zur Regeneration und Selbstheilung – sie gilt es optimal zu fördern und zu nutzen. Damit die Technologie uns am Ende wieder zurück zur Natur bringen kann.
Quellenangaben
https://www.naturundmedizin.de/
Mattson MP, Longo VD, Harvie M: Impact of intermittent fasting on health and disease processes. Ageing Research Reviews 2017; 39: 46–58 CrossRef MEDLINE PubMed Central
https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Kurzzeitfasten-macht-Chemo-wohl-wirksamer-und-vertraeglicher-228654.html
https://www.sciencemag.org/news/2016/10/nobel-honors-discoveries-how-cells-eat-themselves
http://www.gbe-bund.de/pdf/Alternat.pdf
Hermanns2020_Chapter_FHinweiseAufEinigeAlternativeV.pdf
https://ir.inflibnet.ac.in:8443/ir/bitstream/1944/1568/1/68.pdf
https://www.oarsijournal.com/article/S1063-4584(18)30082-7/fulltext
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